Drei Tage in der Wilster- und Krempermarsch. Ein Bericht von der Tagung der Regionalgruppe Nordwest in Glückstadt
Das 26. Treffen des nordwestdeutschen Arbeitskreises für Hausforschung führte uns am 14. bis 16. März 2014 nach Glückstadt und in die angrenzende Wilster- bzw. Krempermarsch - auf Einladung der Architektin und örtlichen Repräsentantin der Interessengemeinschaft Bauernhaus (IGB), Christine Scheer, und von Dr. Wolfgang Rüther, dem Leiter des schleswig-holsteinischen Freilichtmuseums Kiel-Molfsee. Die Tagungsregion liegt nordwestlich von Hamburg, aber abseits der großen Verkehrsströme und war daher den meisten unserer Teilnehmer unbekannt.
Glückstadt wurde 1617 durch den dänischen König Christian IV. gegründet, der gleichzeitig König von Norwegen und Herzog von Schleswig-Holstein war. Der planmäßig angelegte Ort mit einem breiten Hauptkanal (Fleet) und sternförmig vom zentralen Marktplatz ausgehenden Straßen war eine wichtige Festung und über Jahrzehnte die zweitgrößte Stadt des dänischen Königsreichs, der Hafen sollte Hamburg Konkurrenz machen. Holländische Exulanten (Religionsflüchtlinge) und sephardische Juden aus Portugal kamen in die Stadt und belebten die Wirtschaft, wanderten aber schon bald nach dem Dreißigjährigen Krieg wieder ab. Heute ist Glückstadt eine kleine Landstadt mit großer Vergangenheit und den typischen Problemen der negativen demographischen Wandels in ländlichen Regionen. Die Stadtführung am Freitag begann in drei Gruppen am Marktplatz und endete im Detlefsen-Museum, dem Stadtmuseum, das im Palais Brockdorff, einem prächtigen Backsteinbau von 1632, residiert. Gegründet 1894 von Sönnich Detlef F. Detlefsen (1833-1911), gehört es zu den frühen Museen Schleswig-Holsteins. Der Schwerpunkt liegt auf einer modern gestalteten stadt- und wirtschaftsgeschichtlichen Präsentation, u.a. zu den früheren Erwerbszweigen Heringsfischerei, Walfang und Robbenschlag. Imponierend ist auch die dort gezeigte „Döns“, eine holzgetäfelte Stube von 1794, die noch 2002 aus einem abgebrochenen Bauernhaus in der benachbarten Störniederung gerettet worden ist.
Zum Abschluss des Tages wurden wir im Ratskeller vom Glückstädter Bürgermeister begrüßt und erhielten durch Christian Boldt eine Einführung in die Geschichte der Festungsstadt Glückstadt. Bei einem schmackhaften Abendessen und guten Gesprächen klang der Tag aus. Für die vorzügliche Organisation und gute Verpflegung während der Tagung haben wir Christine Scheer, Thomas Spohn und Wolfgang Rüther (mit seinen Mitarbeitern vom Freilichtmuseum Kiel- Molfsee) zu danken.
Tagungslokal für den Sonnabend war die Gastwirtschaft „Poppenhuus“ in der „Engelbrechten Wildnis“ nahe Glückstadt – ein liebevoll restauriertes niederdeutsches Hallenhaus der Krempermarsch, dessen Spitzname von einer Figur der Göttin Flora am Wohnteilgiebel herrührt. Hier begrüßte Stefan Haar, der Bundesvorsitzende der IGB, die Teilnehmer und erinnerte an unseren kurz zuvor verstorbenen Freund und langjährigen Mitstreiter Knut Hose aus dem Wendland. Anschließend gab Dr. Wolfgang Rüther einen kurzen Überblick zu Landschaften und Bevölkerung in Schleswig-Holstein – insbesondere der Unterschied zwischen den fruchtbaren Schwemmland-böden (Klei) der küstennahen Marschen und der sandigen, weniger günstigen Geest sowie den hügeligen, eiszeitlich geprägten Landschaften Ostholsteins ist hier von Bedeutung. Anschließend trug Christine Scheer das Referat des erkrankten Dr. Klaus Lorenzen-Schmidt zur Siedlungs- und Agrargeschichte der Tagungsregion vor: Die ersten nachmittelalterlichen Siedlungen in der Wilster- und Krempermarsch entstanden in Zusammenarbeit von niederländischen Fachleuten für Entwässerung und Deichschutz mit Siedlern aus der näheren Umgebung. Die Siedlungsstruktur bestand aus 24 ha großen Parzellen mit den Bauernhäusern in der Mitte. Diese Streusiedlungslage ist bis heute in der Landschaft nachvollziehbar. Notwendig war alle fünf Jahre das „Kleien“, d.h. Entschlammen der Entwässerungsgräben, wobei die „Grüppen“ von Hand leer geschöpft und der Aushub mittig auf die „Stücke“ gebracht wurde. Daraus entstand über die Jahrhunderte die typische Wölbung der schmalen Acker- und Wiesenparzellen der Marsch. Zur Bearbeitung der extrem schweren Kleiböden mussten Gespanne von vier oder sogar sechs Pferden den einscharigen Pflug ziehen. Mit der sog. zweiten holländischen Einwanderung seit dem späten 16. Jahrhundert kamen Entwässerungsmühlen in die Wilstermarsch, die eine Besiedlung der tiefliegenden Flächen im Innern der Marsch ermöglichten. Durch die stetige Entwässerung senkte sich der torfhaltige Untergrund, so dass hier heute die tiefste Stelle Deutschlands mit 3,5 Meter unter dem Meeresspiegel zu finden ist. Mit den holländischen Einwanderern hielten das „Barghus“ als spezifische Ausbildung des Gulfhauses und die Käseproduktion Einzug in die westelbischen Marschen. Damit begann hier der Einstieg in die exportorientierte Milchverarbeitung früher als in anderen Teilen Norddeutschlands. Wegen der schlechten Qualität des eisenhaltigen Trinkwassers war Bier das Hauptgetränk in den Marschen. Die Bauern suchten aus der Reihe ihrer Söhne selbst den Hoferben aus und in Ermangelung von Söhnen konnten auch Töchter den Hof erben. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden nichterbende Söhne auf höhere Schulen und Universitäten geschickt und ergriffen akademische Berufe.
In ihrem eigenen Referat stellte Christine Scheer die vielfältige und gut erforschte ländliche Bautradition der Tagungsregion vor. Trotz ihrer räumlichen Nähe sind die Krempermarsch im Osten und die Wilstermarsch im Westen Glückstadts zu unterscheiden; dazwischen verläuft die Störniederung. In der Krempermarsch ist das niederdeutsche Hallenhaus, das sogenannte „Husmannshus“, verbreitet. Eines der ältesten Beispiele aus dem Jahre 1597 war etwa eine Woche vor der Tagung abgebrochen worden – nach mehr als 40-jährigen, letztlich vergeblichen Bemühungen um seine Erhaltung. Die Hallenhäuser der rechtselbischen Marschen sind Durchgangsdielenhäuser ohne Kammerfach; Kammern, Stuben und eine Küche liegen am Wohnende im „Vörhus“ (Vorderhaus) beiderseits der Diele. Charakteristisch sind seitliche Flügelbauten mit ungeheizten, oft prächtig bemalten Sommerstuben. Während der in der Regel zum Deich gerichtete Wohnteil einen repräsentativen, mehrfach vorkragenden Steilgiebel aufweist, hat der rückwärtige Wirtschaftsgiebel meistens einen Vollwalm. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts gingen einige Bauern dazu über, massive Backsteingiebel oder zweigeschossige, herrschaftlich anmutende Wohnhäuser zu errichten, deren Obergeschoss mit großen Fenstern mitunter gar keine Wohnnutzung aufwies, sondern nur Lagerraum war. In der Wilstermarsch machten aber auch die reichen Bauern diese Entwicklung nicht mit, sie blieben bis ins 20. Jahrhundert bei den traditionellen Bauernhausformen. Hier sind zwei Haustypen zu unterscheiden: Das niederdeutsche Hallenhaus („Husmannshus“) auf den schon früh besiedelten Uferwällen nahe der Elbe und das Gulfhaus („Barghus“) im tiefer gelegenen Innern der Marsch. Das Gerüst des „Bargs“, des zentralen, erdlastigen Erntestapelraums, besteht aus vier mächtigen Kiefernholzständern mit durchgezapften Ankerbalken und zwei das Hochrähm unterstützenden Zwischenständern. An den Enden des Gerüstes liegen den Rähmen „Bojebalken“ auf, die die Sparren der Walme tragen. Barghüser sind von außen an der außermittigen Einfahrt am Wirtschaftsgiebel zu erkennen. Der Wohnteil, das sogenannte Vörhus, ist im Gegensatz zum Hallenhaus vom Wirtschaftsteil getrennt und als eingeschossiger Querbau an den breiten, hohen Scheunenteil angefügt. Als Nebengebäude stehen auf vielen Höfen große „Bargscheunen“ neben den Haupthäusern. Für Altenteiler und ärmere Handwerker oder Tagelöhner wurden Reihen von Katen entlang der Deichlinien errichtet; später zogen viele Altenteiler nach Wewelsfleth oder Wilster.
Passend dazu führte eine erste Exkursion nach der Mittagspause zu einem besonders einfühlsam renovierten Husmannshus der Krempermarsch, dem Hof Looft in Gehlensiel (Gemeinde Herzhorn). Die prächtige Hofanlage des 18. Jahrhunderts erregte unsere Bewunderung, besonders die riesige, unausgebaut gebliebene Diele, das original erhaltene Sommerhaus mit einer bunt bemalten Sommerstube und die „Döns“ mit prächtigen eichenen Wandpaneelen, die aus dem kürzlich abgebrochenen Haus von 1597 gerettet worden ist.
Dr. Sigrid Wrobel vom Thünen-Institut der Universität Hamburg berichtete über die „Beschaffung von Bauholz in waldloser Gegend“ aus ihrem reichen Schatz von in Jahrzehnten gewonnenen dendrochronologischen Ergebnissen. Bis etwa 1600 konnten Bauherren und Zimmerleute in den Marschen auf Eichenholz aus der näheren Umgebung zurückgreifen. Danach tritt fast nur noch Kiefernholz als Bauholz auf. Zunächst ist es wichtig zu wissen, dass Kiefernholz in weiten Teilen Westeuropas im 17. und 18. Jahrhundert gar nicht vorkam, so in England, Frankreich und den Niederlanden sowie in Schleswig-Holstein und Nordwestdeutschland – hier musste Kiefernbauholz aus östlichen und nördlichen Regionen von Mecklenburg bis Schweden bezogen werden. Dazu passen die an den Hölzern vieler Bauten erkennbaren Floßbohrungen (wie sie etwa Ulrich Klages vielfach beobachtet hat). Ungeklärt blieb allerdings, ob in den Marschen auch „oberländisches Holz“ vom Oberlauf der Elbe verwendet wurde, da die Kurven nach Aussage der Referentin darauf keine Hinweise zeigten.
Die Reihe der Vorträge zum Tagungsthema „Das will ich auch! Mode und Imitation im ländlichen Bauwesen“ eröffneten Dr. Thomas Spohn und Heinz Riepshoff – jeder zu einem für seine Untersuchungsregion spezifischen Gestaltungsmerkmal und dessen Verbreitung. Während Thomas Spohn über Darstellungen von Uhrzifferblättern auf Fachwerkgiebeln des westfälischen Sauerlandes referierte, ging Heinz Riepshoff auf die in Form eines Fischschwanzes gestalteten Knaggen an Fachwerkbauten der Grafschaft Hoya an der mittleren Weser ein. Die Zifferblätter (ohne funktionierendes Uhrwerk) treten zwischen 1774 und 1793 (mit „Nachläufern“ bis 1821) zusammen mit anderen religiösen Symbolen an Bauernhausgiebeln im katholischen Sauerland auf. Thomas Spohn deutet sie als Zeichen, die an die Vergänglichkeit der irdischen Existenz des Menschen mahnen. In einem interessanten theoretischen Exkurs behandelte Spohn die Begriffe Wandel, Mode, Imitation und Tradition und diskutierte das Problem von Freiwilligkeit oder damit verbundenem gesellschaftlichem Zwang. Heinz Riepshoff widerlegte gängige Erklärungsversuche für das Phänomen der Fischschwänze, die zwischen 1604 und 1621 an Fachwerkbauten der Grafschaft Hoya vorkommen – weder die Zugehörigkeit zu den „Siebenmeierhöfen“ des Klosters Bücken noch angenommene Fischereirechte des Erbauers spielten dabei eine Rolle. Abgesehen von ihrer offensichtlichen Verbreitung durch Nachahmung konnte er keine Erklärung für diese vermutlich von einem begabten Schnitzer gefertigten Renaissanceverzierungen anbieten.
Wolfgang Riesner stellte anschließend ein kleines Vierständer-Hallenhaus aus dem Mindener Land von 1875 vor, das zeitgemäße Schmuckformen und funktionale Neuerungen aufweist und offensichtlich als Vorbild für einen größeren Bauernhausneubau von 1882 des gleichen Zimmermeisters auf einem Nachbarhof diente – hier lassen verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den Erbauern auf eine unmittelbare Nachahmung schließen. Josef Pollmann aus Arnsberg führte mit seinem Referat in das Exkursionsgebiet der vorigen Tagung, in die Soester Börde in Westfalen. Er zeigte mehrere landschaftstypische Wohn- und Wirtschaftsgebäude des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts aus dem dort vorkommenden Grünsandstein, die auffällige Lüftungsöffnungen aus Backsteinen aufweisen, die an Einfluglöcher von Taubenschlägen erinnern. Auch stellte er einen örtlichen Bauunternehmer vor, der mehrere dieser Gebäude errichtete.
Der Restaurator Konrad Wiedemann präsentierte mehrere Umbauten von Vierständer-Hallenhäusern im niederen Drawehn (Hannoversches Wendland), die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in typischen Formen des Historismus und Jugendstils ausgeführt wurden. Einige Beispiele zeigen das zeittypische Bemühen, die Gebäude im Sinne des Heimatstils in „landschaftsgebundenen“ Bauformen (Fachwerk, Eingangsloggia anstelle des Dielentores, Pferdeköpfe) umzugestalten. Außerdem zeigte er interessante Beispiele für dekorative Innenraumgestaltungen dieser Zeit mit farbigen Schablonenmalereien und Tapeten.
Prof. Dr. Christine Aka, Volkskundlerin aus Münster, berichtete über Ergebnisse eines Forschungs- und Ausstellungsprojektes am Museumsdorf Cloppenburg: Sie hat die repräsentative Kultur der „bäuerlichen Elite“, also der wohlhabenden Bauern in der Wesermarsch (westlich der Weser, nördlich von Bremen) anhand von überlieferten Sachgütern, Häusern und einer ausgeprägten Friedhofskultur untersucht. Auf den Friedhöfen der Wesermarsch finden sich mächtige Erbbegräbnisse, sog. Grabkeller dieser bäuerlichen Familien aus Obernkirchener Sandstein, die mit adligen Gruftanlagen anderer Regionen vergleichbar sind. Aka beobachtet für diese bäuerliche Oberschicht, die in den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges durch „Fettviehhandel“ zu großem Reichtum gekommen ist, Investitionen in Hausbau und „Repräsentationskultur“, zu deren „must haves“ auch solche Grabanlagen mit spezifisch protestantischen (lutherischen) Ausdrucksformen gehörten. Ähnlich aufwendig gestaltete Grabstelen von Marschbauern konnten wir am folgenden Tag auf dem Friedhof in Wewelsfleth besichtigen.
Einen anregenden Versuch einer „gegenwartsbezogenen Hausforschung“ unternahm Dr. Michael Schimek (Museumsdorf Cloppenburg), der sich mit „neo-historistischen Tendenzen“ im heutigen Bauen beschäftigte. Seit den 1980er Jahren sei im ländlichen Eigenheimbau eine „retrospektive Bauauffassung“ zu beobachten, eine Wiederaufnahme von traditionellen oder historistischen Elementen wie Sprossenfenstern, Krüppelwalmen, Zwerchgiebeln mit Freigespärren, Ziegelornamenten oder auch Fachwerk, wie sie mittlerweile auch von Fertighausherstellern angeboten werden. Anders als die historische Hausforschung braucht Schimek dabei über die Motivationen von Bauherren nicht zu spekulieren, sondern kann diese selbst befragen. Er führte mehrere Interviews mit den Erbauern von nachgebauten Fehnhäusern im Oldenburger Land, die sich besonders eng an den überlieferten Bautypen von Fehnsiedlungen des späten 19. Jahrhunderts (kleine Gulfhäuser mit historistischer Backsteindekoration) orientierten, dabei spielte die Identifikation mit der Geschichte der eigenen Vorfahren in der Fehnsiedlung eine große Rolle. Schimek beabsichtigt, diese Befragungen bei anderen Bauherren von Häusern mit Backsteinornamenten und farbig glasierten Dachziegeln oder von Neubauten im „Toskana-“ oder „Hacienda-Stil“ fortzusetzen, um den Ursachen und Motivationen für diesen auffälligen „Neo-Historismus“ weiter auf die Spur zu kommen.
Abschließend sprach Dr. Wolfgang Dörfler über ein anderes Phänomen „retrospektiven Bauens“, nämlich den Wiederaufbau oder Nachbau von traditionellen Fachwerkgebäuden in norddeutschen Dörfern für eine gemeinschaftliche Nutzung – eine mittlerweile weit verbreitete Bewegung in Norddeutschland, an der er in seinem Heimatort Hesedorf (bei Gyhum, Landkreis Rotenburg) selbst beteiligt war. Von der Translozierung von großen niederdeutschen Hallenhäusern und ihrer Neunutzung als Heimat- oder Dorfgemeinschaftshäuser über den Wiederauf- oder Neubau von einzelnen Schafställen oder Backhäusern bis zu „kleinen Häuserzoos“ reicht das Spektrum dieser von Vereinen getragenen Bauaktivitäten in zahlreichen Dörfern. Dabei steht oft die Freude an gemeinschaftlichen, handwerklichen Aktivitäten und am vermeintlich Traditionellen im Vordergrund, während denkmalpflegerische Ambitionen nur in Einzelfällen eine Rolle spielen.
Exkursion in die Kremper- und Wilstermarsch
Am Sonntag, 16. März folgte die übliche Busexkursion in die Tagungsregion, die einen eindrucksvollen, von Christine Scheer sorgfältig vorbereiteten Überblick über die ländliche Baukultur der Kremper- und Wilstermarsch bot. Zunächst wurde der Hof Lutte in Dammfleth, Hochfeld 7, besucht, ein früherer Milchwirtschaftshof mit einem typischen Barghus der inneren Wilstermarsch und zwei Nebengebäuden. Das 340 qm große Barghus mit Kiefernholz-Innengerüst wurde nach 1737 (d) wohl zwischen 1745 und 1772 errichtet; der eingeschossige, quer angebaute Wohnteil wurde 1878 erneuert. 1992 erwarben die heutigen Eigentümer den Resthof und restaurierten ihn behutsam – bei extensiver Nutzung des Wirtschaftsteiles mit dem tragenden Gulfgerüst.
Auf dem Hof Lübbe in Stördorf 12 konnte der immer noch eindrucksvolle Torso eines frühen Husmannshuses (Hallenhauses) mit Ankerbalkenzimmerung von 1569 (d) besichtigt werden. Der Wirtschaftsteil des Gebäudes war schon zum größten Teil abgebrochen, als der Eigentümer 1986 von einer Erhaltung überzeugt werden konnte. Erhalten blieben drei Restgebinde des alten Hallenhauses, die heute durch eine große Glaswand abgeschlossen werden, und der spätklassizistisch umgebaute, zweigeschossige Wohnteil. Außerdem steht auf dem Hof eine frühe Bargscheune von 1605 (d), die unter Erhaltung des historischen Innengerüstes zu einem großzügigen, modernen Wohnhaus umgestaltet worden ist. Bei einsetzendem Nieselregen wurde bei Honigfleth eine translozierte und restaurierte Wasserschöpfmühle mit Förderschnecke (archimedischer Schraube), eine der letzten der Wilstermarsch, in langsamer Vorbeifahrt besichtigt.
Es folgte ein Rundgang durch die Kleinstadt Wilster, den Hauptort der Wilstermarsch. Zunächst wurde die ev.- luth. Bartholomäuskirche besichtigt, ein eindrucksvoller spätbarocker Emporensaal aus Backstein mit großen, parabelförmigen Bogenfenstern und älterem Westturm. Erbaut wurde die Kirche 1775-81 nach Plänen von Ernst Georg Sonnin, dem Architekten der Hamburger Michaeliskirche und ihres Turmes, des „Hamburger Michels“. Es folgte das Alte Rathaus, ein reicher Renaissance-Fachwerkbau auf einem hohen Backsteinunterbau von 1585, der 1912-19 von Albrecht Haupt (Hannover) restauriert wurde (weitere Sanierungen: 1985-96, 2007-12). Der Bau enthält interessante museale Sammlungen, eine historische Bibliothek und eine translozierte Wilstermarsch-Stube; ein Naturkundemuseum befindet sich im zugehörigen Speicher. Das „Neue Rathaus“ (Doo-se‘sches Palais) wurde 1785 von dem Kanzleirat Doose als großbürgerlicher Beamtensitz erbaut und 1828 von seiner Witwe der Stadt Wilster vermacht. Der spätbarock-klassizistische Backsteinbau (Fassade 1936 rekonstruiert) mit reicher Innenausstattung und teilweise erhaltener Gartenanlage dient heute als Stadtbibliothek und -archiv.
Nachdenklich machte uns ein frisch geschredderter Backsteinhaufen auf einer Warft, an dem wir am Ortsausgang von Wilster vorbeifuhren - nach Aussage von Christine Scheer die letzten Überreste eines soeben abgerissenen Fachhallenhauses mit einer sehr schönen Vorderfront aus dem 19. Jahrhundert. Auch sonst waren während der Rundfahrt immer wieder leerstehende Bauernhäuser oder Scheunen mit löcherigen Reetdächern und Anzeichen fortschreitenden Verfalls zu beobachten – die Gefährdung der ländlichen Baukultur durch den Strukturwandel der Landwirtschaft und demographische Veränderungen wurde erschreckend deutlich.
Den Abschluss der Exkursion bildete ein Rundgang durch Wewelsfleth. Der Ort war nach 1500 wegen wiederholter Überflutungen vom Elbufer an seinen jetzigen Standort am Fluss Stör verlegt worden. Die Häuser an der Dorfstraße und Deichreihe stehen direkt auf dem Stördeich, bei Hochwassergefahr konnten Holzbohlen in Nuten zwischen den Hausfassaden eingeschoben werden. Die ev. Trinitatiskirche wurde 1503 als schlichter Backstein-Saalbau erbaut, das südliche Querhaus 1598 angefügt. Der freistehende hölzerne Glockenturm mit Schweifhaube stammt von 1817. Vor der Kirche stehen einige imposante Grabstelen von Marschbauern aus dem 17. und 18. Jahrhundert; andere Grabdenkmäler erinnern an örtliche Schiffbauerfamilien; die Schiffbautradition besteht bis heute. Das benachbarte Haus Dorfstraße 3 wurde ausgiebig besichtigt. Der langgestreckte Fachwerkbau mit Brettergiebeln stammt in seinem hinteren Teil von 1590 (d) und wurde 1698 (d) durch den Kirchspielvogt Peter Hellmann erweitert. Große Teile der alten Ausstattung blieben erhalten und wurden behutsam restauriert: ein Saal mit Spätrenaissance-Kamin und glasierten Fußbodenfliesen im Obergeschoss, Stube und Kammer im Erdgeschoss mit hölzernen Paneelen und Wandfliesen sowie ein Kolonialwarenladen von 1830 an der Diele, der noch bis 1965 in Betrieb war. 1970 kaufte der Schriftsteller Günther Grass das Haus und rettete es vor dem Abriss. Er bewohnte es bis 1984, hier entstanden u.a. die Romane „Der Butt“ und „Kopfgeburten“. Anschließend schenkte er das Haus der Alfred-Döblin-Stiftung (Berlin), die es als Wohnung für Literatur-Stipendiaten nutzt.
Zum Abschluss wurde südlich der Kirche ein früherer Speicher des späten 16. oder frühen 17. Jahrhunderts von außen besichtigt, der später zum Wohnhaus umgenutzt worden ist. Gegen 17 Uhr endete die Exkursion am Kirchplatz in Wewelsfleth und mit nachhaltigen Eindrücken aus einer reichen Kulturlandschaft an der unteren Elbe traten die Teilnehmer den Heimweg an.
Wolfgang Dörfler und Heinrich Stiewe
Liebe Leute, von der Stabi hier in Hamburg habe ich den link bekommen, weil ich auf deren post bei Facebook einen Kommentar abgegeben hatte.
AntwortenLöschenIch freue mich sehr darüber!, denn ich bin in Burg/Dithmarschen geboren, habe später bei meinem Vater in Oldendorf/Kreis Steinburg in der Grundschule Heimatkundeunterricht gehabt und bin vor knapp 39 Jahren aus Itzehoe nach Hamburg gezogen.
Meiner "alten" Heimat (die ja auch die Äcker vor Hamburg genannt wird) bin ich aber weiterhin verbunden, weil ich dort Verwandte und Bekannte habe, und Glück-Stadt (= meine Schreibweise) kenne ich sehr gut, von früher, und ich besuche die schöne kleine Stadt und verschiedene Künstlerinnen dort immer wieder gerne.
Vielleicht haben Sie Lust, meinen plattdeutschen Text über die "Deern" in G. zu lesen: http://www.plattpartu.de/kuenst/glueckstadt.htm
Herzliche Grüße - Katja H. Renfert
www.renfert.net